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Tim Berners-Lee über Vergangenheit und Zukunft des Web

Das World Wide Web ist mittlerweile für Millionen von Menschen so sehr zu einem Bestandteil des täglichen Lebens geworden, dass sie sich fast nicht mehr vorstellen können, dass es einmal eine Zeit gab, in der es nicht da war. Während sich kurz vor Jahresende zahlreiche Prognostiker berufen fühlen, vorauszusagen, wie es weitergeht, hat der «Erfinder» des Web, Tim Berners-Lee, ein Buch publiziert, das auch die Vergangenheit ins Blickfeld rückt.

Quelle: Neue Zürcher Zeitung, 3. Dezember 1999

S. B. In der Computerbranche gibt es keine gute alte Zeit. Für Geschichtsbewusstsein lässt der atemlose Fortschritt keine Zeit. Vergangenheit ist eine Last, die beispielsweise Intel in naher Zukunft mit dem Konzept des Legacy-Free-PC beseitigen will. Vergangenheit in Form etwa eines Microsoft-Word-Dokuments ist mit dem übernächsten Upgrade nicht mehr zugänglich. Die «History»-Funktion des Microsoft-Web-Browsers hat kein Verständnis für das zeitliche Nacheinander und ordnet statt dessen die im Verlauf der letzten Tage besuchten Web-Sites alphabetisch.

Wo immer in dieser Branche Graphiken herumgereicht werden, um Zahlenwerte zu visualisieren - Internet-Benutzer, Aktienkurse oder E-Commerce-Umsätze -, entflieht die Linie der X-Achse, jagt steil nach oben und scheint sich der Richtung der Y-Achse anzunähern. Der Nullpunkt fällt aus dem Blickfeld.

Gespenster der Vergangenheit

Nun scheint es aber doch, als ob das Bedürfnis nach einer Verschnaufpause aufkommt. Einige Vertreter der Branche drängt es, den Blick zurückzuwenden und über ihre Erlebnisse zu reden. In den letzten Wochen und Monaten sind gleich mehrere Bücher erschienen, die versuchen, die jüngste Entwicklung nachzuzeichnen. Nach «Speeding the Net: The Inside Story of Netscape and How It Challenged Microsoft » (1998) und «Competing on Internet Time: Lessons from Netscape and its Battle with Microsoft» (1998) wurden kürzlich mit «Aol.com: How Steve Case beat Bill Gates, nailed the Netheads, and made Millions in the War for the Web» (1999), «Netscape Time: The Making of the Billion-Dollar Start-up that took on Microsoft» (1999) und «How the Web was won: The inside Story of how Bill Gates and his Band of Internet Idealists transformed a Software Empire» gleich mehrere Bücher erschienen, die die jüngste Vergangenheit des Internet zum Thema haben und Zeugnis ablegen vom sogenannten Browser-Krieg - so man denn das aggressive Verschenken von Software als Krieg bezeichnen will -, der mittlerweile durch die Omnipräsenz des Microsoft-Internet-Explorers beendet wurde.

In «Netscape Time» schildert Netscape-Gründer Jim Clark, wie eine Gruppe junger Programmierer in selbstlosem Einsatz den ersten kommerziellen Web-Browser entwickelte, dann aber von Microsoft mit unsauberen Methoden ausgetrickst wurde und sich schon in jungen Jahren mit wenigen Millionen Dollar aufs Altenteil zurückziehen musste. In «How the Web was won» berichtet der «Seattle Times»-Journalist Paul Andrews von den heroischen Taten der Microsoft-Idealisten. Um aber zu verstehen, wie Microsoft mit einem minderwertigen Produkt, das zudem mit grosser Verspätung auf dem Markt kam, trotzdem die Konkurrenz aus dem Feld schlagen konnte, ist die Beweisaufnahme 1 im Prozess zwischen Microsoft und dem amerikanischen Justizministerium als Lektüre eher zu empfehlen. Dieser Text ist nicht nur unentgeltlich zugänglich, sondern auch kürzer, präziser und dürfte dem Anspruch, unparteiisch zu sein, eher genügen.

Geistige Nahrung

Unter den Büchern, die in jüngster Zeit die Geschichte des Web thematisieren, ragt eines mit dem ganz unspektakulären Titel «Weaving the Web» 2 heraus. Dies nicht nur, weil sich hier mit Tim Berners-Lee der «Vater» des Web zu Wort meldet, sondern auch, weil es von den Anfängen spricht, als weder Jim Clark noch Bill Gates sich etwas unter dem Kürzel WWW vorstellen konnten und weil es jenseits von Internet-Explorer 5.0, 6.0 und 7.0 interessantere Zukunftsszenarien aufzeigen kann.

Als Tim Berners-Lee zu Beginn der achtziger Jahre erstmals mit Hilfe eines Pascal-Compilers in einem Büro des Kernforschungszentrums CERN in Genf sich mit der Entwicklung eines Software-Programms beschäftigte, das Ideen des World Wide Web vorwegnahm, nannte er das Projekt «Enquire within upon Everything», in Anlehnung an ein viktorianisches Ratgeberbuch, das er als Kind in der Bibliothek seiner Eltern gesehen hatte. Seine Eltern waren Mathematiker und arbeiteten für die englische Firma Ferranti Inc. an der Entwicklung eines der ersten kommerziellen Computer. Einmal, so erinnert er sich, habe sein Vater die Frage aufgeworfen, ob es wohl möglich sei, einen intuitiven Computer zu bauen, der in der Lage wäre, Assoziationen zu knüpfen wie das menschliche Gehirn. Diese Frage habe ihn noch während seiner Studienzeit am Queens College der Oxford University beschäftigt. «In einer extremen Ansicht ist die Welt nichts anderes als eine Sammlung von Verweisen. . . . Mir gefällt die Vorstellung, dass ein Stück Information allein dadurch definiert wird, mit was es wie verbunden ist.»

Am CERN, als Mitarbeiter der Gruppe «Data Acquisition and Control», versucht Berners-Lee seine Vorstellungen einer Software, «die alles mit allem verknüpft», weiterzuentwickeln. Diese Bemühungen mussten auf eine äusserst heterogene Informatik-Umgebung und den sehr individualistischen Arbeitsstil von Wissenschaftern aus aller Welt Rücksicht nehmen. Undenkbar, hier eine zentralistische, auf ein einzelnes Betriebssystem ausgerichtete und von den Benutzer straffe Disziplin fordernde Lösung verwirklichen zu wollen.

Während einiger Zeit bemühte sich Berners- Lee, das Web nicht erfinden zu müssen. Er glaubte, dass sich seine Ideen durch geringfügige Modifikationen von bestehenden Programmen realisieren liessen. Er spricht mit Leuten von Owl Ltd. oder Electronic Book Technology, besucht Hypertext-Tagungen, findet aber kein Verständnis. Im Oktober 1990 beginnt er auf einer Unix- Maschine von Next Software zu entwickeln, im November sind ein Web-Browser und ein Web- Server fertig. Am Weihnachtstag 1990, wenige Tage bevor seine Frau ihr erstes Kind zur Welt bringt, wird der erste Web-Server - info.cern.ch - aufgeschaltet. Im Juli 1991 werden pro Tag bis zu 100 Dokumente von info.cern.ch aufgerufen; ein Jahr später sind es 1000, 1993 10 000 pro Tag. Im Oktober 1999 wurden gemäss der Marktforschungsfirma Media Metrix allein in den USA durchschnittlich eine Milliarde Seiten pro Tag aufgerufen.

Unternehmergeist

Um auch Leuten ohne Next-Computer einen einfach zu bedienenden Web-Browser zur Verfügung zu stellen, sah sich Berners-Lee zu Beginn der neunziger Jahre gezwungen, Mitstreiter zu suchen. Am französischen Informatik-Forschungsinstitut INRIA stiess er auf Programmierer, die einen sehr leistungsfähigen Hypertext- Editor/Browser für SGML entwickelt hatten. Er versuchte sie zu überzeugen, dieses Programm fürs Web anzupassen, erhielt aber zur Antwort, er solle zuerst schauen, ob er dafür von der Europäischen Kommission Gelder lockermachen könne. «Ich war ziemlich frustriert. . . . Diese Geisteshaltung, so dachte ich, war so anders als der amerikanische Unternehmergeist.» Im Dezember 1994 veröffentlicht dann die US-Firma Netscape ein Programm namens Navigator, das zwar im Unterschied zum INRIA-Programm keine Editor- Funktionen zu bieten hatte, aber sehr einfach zu bedienen war und rasch viele Anhänger fand. Acht Monate später wagte Netscape den Gang an die Börse, am Abend des ersten Handelstages war die Firma 4,4 Milliarden Dollar wert.

Die Leute fragten ihn oft, so berichtet Berners- Lee, ob er es nicht bereue, mit dem Web nicht mehr Geld verdient zu haben. Nein, er bereue es nicht. «Was mich aber bedrückt, ist, wie wichtig diese Frage - vor allem in den USA, weniger in Europa - vielen Leuten zu sein scheint. Es macht mich verrückt, dass die Bedeutung einer Person nur in Geld gemessen werden soll.»

Anders als es das Thema und die Vorbildung des Autors erwarten lassen, bietet «Weaving the Web» wenig Technisches. Wer sich von der Lektüre erhofft, etwas über aktuelle Akronyme wie XML, XLink, XSL, XSLT usw. zu erfahren, wird enttäuscht sein. Das Buch vermittelt den Eindruck, dass die wirklich überragende Leistung von Berners-Lee nicht die war, Kommunikationssoftware entwickelt zu haben, sondern die darin ansatzweise verwirklichte Vision hartnäckig über Jahre hinweg zuerst gegenüber der Interesselosigkeit seiner Vorgesetzten beim CERN oder bei den etablierten Internet-Gremien wie der Internet Engineering Taskforce (IETF), später dann gegenüber den Begehrlichkeiten von Firmen wie Microsoft oder Netscape verteidigt zu haben.

Im Sommer 1994 verlässt Berners-Lee zusammen mit seiner Familie sein Häuschen in der Nähe von Genf und übersiedelt nach Boston. Am Massachusetts Institute of Technology (MIT) leitet er nun das World Wide Web Consortium (W3C), das die Weiterentwicklung der Web-Standards vorantreiben soll. Der Grundstein für das W3C wurde Anfang 1994 anlässlich eines Treffens zwischen Berners-Lee und dem MIT-Professor Michael Dertouzos gelegt. Die beiden trafen sich in einem «netten» Café in der Zürcher Altstadt «over some characteristic Zurich-style veal and Rösti».

Ein weltumspannender Denkapparat

Berners-Lee und das W3C haben in den letzten zwei, drei Jahren neue Techniken geschaffen, die das Web, aber auch die Informatik allgemein stark verändern werden. Dabei ist mit der Extensible Markup Language (XML) und den damit zusammenhängenden Konzepten das Kunststück gelungen, Neues zu ermöglichen und gleichzeitig Bestehendes zu bewahren, klare Vorgaben zu machen und gleichzeitig den Spielraum für individuelle Erweiterungen zu vergrössern, Diversität zu fördern und Interoperabilität zu gewährleisten.

Auf das gewaltige Potential, das die XML- Konzepte in sich bergen, wurde an dieser Stelle vor fast zwei Jahren schon hingewiesen, bisher ist aber in der Praxis davon noch wenig zu spüren. Das hat damit zu tun, dass die XML-Standards noch nicht in allen Teilen fertig sind, dass ihre Umsetzung den Software-Entwicklern und Web- Designer viel abverlangt, aber auch damit, dass der Browser-Markt mittlerweile von einer einzelnen Firma dominiert wird und die Innovation deshalb einzuschlafen droht.

Auch wenn es also nicht so bald Produkte geben wird, die die Versprechungen von XML und der damit zusammenhängenden Standards vollumfänglich einem grösseren Publikum zugänglich machen, so lässt man sich doch gern von den Visionen des Web-Erfinders mitreissen. «Ich habe einen Traum», sagt er. «Zuerst soll das Web die Zusammenarbeit zwischen den Menschen verbessern.» Das Web soll echte Zweiwegkommunikation erlauben, in der jeder gleichzeitig Produzent und Rezipient ist. «Dann wird die Zusammenarbeit auch Computer einbeziehen.» Maschinen sollen in die Lage versetzt werden, den Inhalt von Dokumenten zu verstehen, und Querbezüge, die wiederum den Menschen nützlich sind, herzustellen. «Wenn sich dieser Traum verwirklicht, wird das Web ein Raum sein, in dem spontane Einfälle von Menschen und das Räsonieren von Maschinen sich zu einer idealen, mächtigen Mischung vereinen.» Das Web wäre dann ein globales Gehirn; genau so, wie der menschliche Denkapparat mehr ist als die Summe seiner Neuronen, wäre dann auch das Web mehr als nur eine Sammlung von elektronischen Dokumenten. Um das zu realisieren, brauche es noch viel Arbeit: «Das Web ist bei weitem noch nicht fertig.»

1 http://www.annoyances.org/win98/features/trial.html

2 Tim Berners-Lee with Mark Fischetti: Weaving the Web. The original design and ultimate destiny of the World Wide Web by its inventor. Harper-Collins, San Francisco 1999. (Eine deutsche Übersetzung soll unter dem Titel «Der Web-Report» demnächst beim Econ-Verlag erscheinen.)

Quelle: Neue Zürcher Zeitung, 3. Dezember 1999

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